Liebe Freunde II

Liebe Freunde!

Ich möchte mit Euch heute persönlich reden, da ich nicht anrufen konnte. “Nun”, werdet Ihr sagen, “Das kann doch kein Problem sein. Der Mann wird doch nicht so wichtig sein, daß er keine Zeit zum Telefonieren hätte.” Das ist wahr. Eigentlich bin ich, da ich fürchterlich unwichtig bin, im Vollbesitz meiner zeitlichen Kräfte. Aber leider gibt es da ein kleines Problem, daß mich daran hindert, mit Euch Kontakt aufzunehmen.
Ich trau mich nicht.
Wie oft bin ich schon vor einem dieser technologischen Monster gestanden und habe versucht, sie in Betrieb zu setzen. Wie of bin ich dann daran gescheitert, daß meine Hand zu zittern begonnen hat. So zu zittern, daß ich nicht einmal Eure Nummer wählen konnte. Und wie oft habe ich mir in Panik die Haare zerzaust und das Telefonkabel um den Hals gewickelt. Ich hätte mich wahrscheinlich schon oft erwürgt, aber diesen letzten Triumph wollte ich dem Telefon nicht lassen.
Vielleicht wird jetzt jemand von Euch fragen, wo denn diese telekommunikative Angst ihren Ursprung hat. Nun ja, das kann ich Euch beantworten.
Einige von Euch wissen, daß ich, wenn ich meine Schüchternheit überwunden habe, völlig feige bin. Und das ich, sollte ich einmal mit letzter Kraft diese Feigheit besiegt haben, in lethargische Angst verfalle. Somit ist es kein Wunder, daß das Telefonieren für mich eine große Herausforderung darstellt. In meinen Träumen werde ich von Telefonhörern gejagt, von Leuten, die mir zurufen “Falsch verbunden!”, “Bin ich nicht – Haha!”, “Ich will nicht mit dir reden”. Und auch im normalen Leben werde ich verfolgt: Wenn ich mir eine Muschel ans Ohr halte, höre ich nie das Meer rauschen, sondern nur das Besetztzeichen.
Wer fragt da noch, wie es einen Menschen geben kann, der sich nicht telefonieren traut?
Nun – es gibt kein Erlebnis in meiner Kindheit, wo ich von meinen Eltern mit einem Telefonhörer geschlagen wurde. Und nie mußte ich den bösen Telefonhörer in einem Kindergarten-Theaterstück spielen. Meine Lehrerin hat mir auch nie aufgetragen, zur Strafe im Eckerl zu stehen und dabei einen Telfonhörer zu halten (obwohl ich das ohne Telefon tun mußte). Auch wurde ich nie von meinem Vater gezwungen, eine Telefonumfrage durchzuführen (Das Ergebnis wäre natürlich sicherlich interessant und fürchterlich repräsentativ gewesen).
Also – wer fragt da noch?
Anscheinend doch noch einige Leute. Seltsam.
Ja – um zum wahren Grund zu kommen.
Da gab es ja jenen Tag – kurz vor meinem 18. Geburtstag – als ich in einer Pizzeria anrufen mußte um Plätze für meine Geburtstagsfeier zu reservieren. Und als ich – fast bewußtlos vor Angst – mit dem Kellner sprach, passierte es, daß ich einen Tisch reserviert hatte. Halb tot legte ich damals auf.
Schrecklich – nicht wahr!
Und der Tag, an dem ich – nein, ich kann es nicht erzählen, es ist einfach zu fürchterlich. Nun gut, ich gebe zu, mir fehlen die Worte – und leider auch die Erklärungen. Vielleicht werdet Ihr trotzdem verstehen, warum ich Euch nicht anrufen konnte.
Also, ich wollte sagen – Hallo? Hallo? Ist da noch jemand?

Aufgelegt.