In fremden Landen.
Ein Reisebericht.
Nach einem sechswöchigen Ritt erreichte ich ein Gebiet, das vor mir von noch keinem Westländer besucht worden ist.
Leider wußte auch mein Führer nichts über dieses Gebiet, er konnte mir nur sagen, daß in diesem Land ein ewiger Streit zwischen Volksgruppen herrschte.
Die Leute aus den umliegenden Stämmen mieden dieses Land, denn sie hatten schlechte Erfahrung mit den Einheimischen gemacht.
Mein Führer wendete sein Tier an der Grenze des Gebietes und forderte seinen Lohn, denn er meinte, er wolle dieses Gebiet nicht betreten, da von den Menschen, so sagte er, die Krankheit des Streites ausging.
Weder ein großzügiger Bonus, noch Ermahnungen an sein Pflichtbewußtsein konnten ihm davon überzeugen, mich weiter zu begleiten und so ritt ich also alleine weiter
Bald darauf traf ich auf ein kleines Häuschen im Wald, vor dem ein altes Mütterlein saß und einem Schal strickte.
“Willkommen, Fremder!”, rief sie mir zu. “Hier findest du Rast und Ruhe und Stärkung!”
Freundlich grüßend stieg ich vom Pferd.
Das alte Mütterlein war in ihre Hütte gegangen und kam mit einem großen Laib Brot zurück.
“Stärke dich, Fremder, während ich meinen Schal weiterstricke!”
Ich schnitt mir ein tüchtiges Stück vom Brot ab und aß mit Genuß.
Mit eher mangelndem Interesse betrachtete ich den Schal, der nach dem Muster “zwei glatt, zwei verkehrt” gestrickt wurde. Dies konnte ich erkennen, da ich in der Grundschule Handarbeiten gehabt hatte, das ich zwar mit mäßigem Erfolg abgeschlossen hatte, von dem aber noch genügend Information hängengeblieben war, um mir im vorliegendem Fall zu helfen.
Das alte Mütterlein bemerkte meinen forschenden Blick und fragte:
“Wie strickst du den Schal, Fremder?”
Ich glaube, daß mein Blick ziemlich verwundert gewesen sein muß, denn das Mütterlein sah mich erschrocken an.
“Du strickst doch einen Schal, oder?”
“Nein, ich bin ein Fremder.” antwortete ich. “Da, wo ich her komme, stricken nur wenige Leute Schals, vor allem Frauen.”
Sie war ganz erschreckt und blickte mich mit offenen Augen an:
“Und was macht ihr dann für euren Herrscher?”
“Herrscher?” fragte ich verwundert.
“Wir stricken Schals für unseren König. Jeder von uns strickt zu seiner Ehre.”
“Alle Bürger dieses Landes stricken Schals?”
“Ja, so war es immer schon, und so wird es immer sein!”
Während sie das sagte, warf sie mir wieder diesen verwunderten Blick zu, so daß ich beschloß, sie nicht weiter zu fragen und weitere Informationen durch Beobachtung zu erlangen.
Das Mütterlein strickte weiter, während ich mein Brot zu Ende aß.
Wir sprachen noch ein bißchen über den Weg, der vor mir lag, und dann verabschiedete sie sich, wieder freundlich, von mir.
Ich ritt weiter und kam nach mehreren Stunden bei einem Haus vorbei. Ein Junge von ungefähr 14 Jahren stand vor der Türe und ich stieg ab, um ihm nach dem Weg zu fragen.
Sobald ich näher kam, lief er schreiend in das Haus hinein und kam mit seiner kompletten Familie zurück.
Zuerst baute sich der Vater vor mir auf, dann drängten sich sein Sohn und seine Tochter gleichzeitig durch die Haustüre, darauf kam ein alter Mann zum Vorschein, wahrscheinlich der Großvater, und zuletzt die Mutter, die in der Hand einen unfertigen Schal hielt.
Ich fragte den Vater, der mich neugierig und erwartungsvoll anblickte:
“Kannst du mir den richtigen Weg zeigen?”
Der Vater erklärte mir, wie ich in die Hauptstadt des Landes kommen würde. Dann fragte er noch, ob er mir etwas zum Essen anbieten dürfte.
Ich verneinte und sagte: “Ich habe schon bei einem guten alten Mütterlein genug gegessen.”
“Welches alte Mütterlein?”
“Im Wald, nahe der Grenze.”
“Diese alte Hexe!” schrie der Vater erbost. “Sie strickt den Schal falsch!”
Der Großvater drängte sich vor und schrie mich an:
“Du warst bei dieser Frau! Bist du verrückt? Willst du unseren König durch diese Tat entehren?”
Ich war ganz erstaunt über so viel Feindlichkeit und versuchte mich zu verteidigen:
“Aber ich bin ein Fremder, ich hatte doch keine Ahnung, das mit dieser alten Frau etwas falsch war. Für mich schien sie freundlich und hilfsbereit.”
“Alles nur Falschheit!” schrie der Großvater. “Hast du nicht gesehen, wie sie den Schal strickt?”
“Doch” sagte ich.
“Und da ist dir nichts aufgefallen?”
“Nein”
“Du strickst nicht vielleicht den Schal so wie sie?” fragte der Alte mißtrauisch.
“Nein” antwortete ich wahrheitsgemäß.
“Wie strickst du den Schal?” fragte er weiter, noch immer mißtrauisch.
Ich wendete mich dem Vater zu:
“Mein Pferd ist hungrig und durstig. Kannst du mir sagen, wo ich eine Wiese mit Wasserstelle finden kann?”
“Ja, dort hinten. Ina, zeig’s ihm”
Mit diesen Worten gab er dem Mädchen einen Schubs, so daß es nach vorne stolperte.
“Komm mit, Fremder”, sagte seine Tochter leise.
Langsam ging sie mir voraus.
Als wir außer Hörweite des Hauses waren, drehte sie sich zu mir um und sagte:
“Du bist der erste, der gut über die alte Frau spricht. Ich glaube, daß sie den Schal richtig strickt und das meine Familie einen großen Fehler macht.
Aber als ich eine kurze Andeutung meinem Großvater gegenüber gemacht habe, hat er mich grün und blau geschlagen.
Jemand, der so etwas tut, kann nicht den Schal richtig stricken!”
Ich schwieg.
Mein Schweigen falsch deutend, sagte sie traurig:
“Du strickst den Schal auch so wie meine Familie. Wirst du mich jetzt an meinem Großvater verraten?”
“Ich komme aus einem fernen Land. Wir haben andere Sitten und Gebräuche und wir stricken keine Schals für unseren König.”
Ungläubig sah sie mich an.
“Wirklich? Und wie verehrt ihr euren König?”
“Jeder so, wie er will.” sagte ich, um nicht mehr erklären zu müssen.
“Und das ist richtig? Euer König wird nicht böse, wenn er keinen Schal erhält?”
“Nein.”
“Also, unserer schon.”
“Woher weißt du das?”
“Alle sagen es. Besonders die alten, die Erzählungen kennen aus der Zeit, wo wir noch keine Schals strickten. Die Leute stahlen, mordeten und taten noch viel mehr schreckliche Dinge, doch ein Prinz hat uns gezeigt, wie man den Schal für den König strickt und seit dem sind die Verbrechen weniger geworden.”
“Und wie hat dieser Prinz den Schal gestrickt?”
“Ganz genau weiß ich das nicht. Aber ziemlich einfach und sicher nicht mit den schweren Mustern wie meine Familie. Das ist immer so anstrengend, da muß man genau aufpassen, das man keinen Fehler macht, sonst schimpft der Großvater immer mit mir.”
Wir waren bei einem kleinen, fröhlich glucksendem Bach angelangt und ich führte mein Pferd zum Wasser, wo es mit Genuß trank.
Das Mädchen stand einige Zeit still neben mir und sah dem Pferd zu, wie es begann, Gras zu fressen.
Schließlich fragte sie mich: “Und was glaubst du, was richtig ist?”
Ich antwortete: “Ich bin zu fremd hier, um dir eine Antwort zu geben. Aber eines kann ich dir sagen: Wenn du nie aufhörst, denn richtigen Weg zu suchen, dann wirst du ihn sicher einmal finden.”
Mein Pferd hatte sich gestärkt und ich konnte weiter reiten.
Ich reichte dem Mädchen die Hand und verabschiedete mich.
“Viel Glück auf deinem Weg, Fremder!” sagte das Mädchen, als ich aufstieg.
“Ich wünsche dir auch viel Glück auf deinem Weg!” Damit ritt ich weiter.
Langsam brach die Nacht herein und ich suchte den Horizont nach einem Licht ab. Schon befürchtete ich, im Freien übernachten zu müssen, als ich in der Ferne die Lichter von mehreren Häusern entdeckte.
Fast konnte ich den Weg nicht mehr sehen, als ich in einem kleinen Dorf anlangte.
Ich ritt den kleinen Dorfweg entlang.
Rechts und links von mir sah ich Lichter, die aus kleinen Fenstern auf den Weg schienen und roch das Abendessen, das am Herd brutzelte.
In der Mitte des Dorfes stand ein Haus, das größer als alle anderen war.
Ein Schild mit einem aufgemalten Bett hing davor und ich schloß daraus, nachdem ich meinen Scharfsinn enorm angestrengt hatte, daß es sich bei diesem Gebäude um ein Gasthaus handeln müßte.
Ich öffnete die Türe und betrat einen großen Raum, der mit fünf Betten, zwei Tischen, mehreren Stühlen, zwei angeheiterten älteren Männern, einer circa 35 jährigen Frau, einem gleichaltrigen Mann, zwei jungen Kindern und einem alten schlafendem Hund möbliert war.
Und alle strickten Schals – bis auf die Möbel und dem Hund natürlich.
Zumindest taten sie das solange, bis sie mich wahrgenommen hatten.
Einer der Männer, der, wie es sich später herausstellte, der Wirt dieses Etablissements war, kam auf mich zu, umarmte mich fast und rief so laut, daß der Hund unsanft aus seinen Träumen gerissen wurde:
“Herzlich willkommen!, Fremder!, in unserer bescheidenen Hütte!, dem besten und größten Hotel dieses Dorfes!”
Der Hund war aufgesprungen und beroch mich jetzt schwanzwedelnd.
“Da wir hier ja alle Brüder sind, bekommst du hier ein warmes Bett und ein ebensolches Essen für eine bescheidene Summe!”
Er nannte einen Betrag, der höchstens bescheiden gewesen wäre, wenn ich das Haus kaufen hätte wollen.
Ich sagte aber zu und setzte mich an einem freien Tisch.
Die beiden angeheiterten Männer am Nebentisch beobachteten mich auffällig, während sie weiterstrickten.
Obwohl ihre Mienen ganz deutlich einige Gläser Wein widerspiegelten, konnten sie trotzdem ihre Schals problemlos stricken.
Ich saß also an meinem Tisch und wartete.
Als nach ungefähr einer halben Stunde sich noch immer niemand dazu aufgerafft hatte, mir ein Essen zu machen, machte ich dem Wirt eine diesbezügliche Bemerkung.
“Man merkt, daß du hier fremd bist!” klärte er mich auf. “Wir essen am Abend nichts. Die warme Speise gibt es zu Mittag!”
“Aber ich reite in der Frühe weiter!” warf ich ein.
“Tut mir leid, so ist das eben!”
Ich stand auf, um nach meinem Pferd zu sehen. In den Satteltaschen hatte ich noch etwas Proviant, den ich verzehrte. Aus der Gaststube drang gedämpftes Gelächter.
Als ich die Türe öffnete, wurde es plötzlich still. Alle blickten angestrengt auf ihre Strickarbeiten.
Ich setzte mich wieder an meinem Tisch.
Keiner sprach einige Minuten lang ein Wort und da mir diese Stille unangenehm war, fragte ich den Wirten:
“Nach welcher Art strickt ihr den Schal?”
Der Wirt sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er Nahrung zu sich nehme und antwortete dann:
“Es gibt nur eine einzig richtige, allumfassende Art, den Schal zu stricken, und genauso tun wir es!”
Ich schwieg und er dachte, ich wäre beeindruckt.
“Wir sind gute Menschen” sagte der Wirt im Brustton der Überzeugung, um mich völlig vom Tisch zu werfen. “Wirklich gut. Jeder von uns strickt seinen Schal für den König. Jeder von uns strickt am Abend mindestens eine halbe Stunde, sogar die Kleinen! Die bekommen nichts zum Essen —- bevor sie nicht eine halbe Stunde gestrickt haben!”
Er drehte sich zu seiner Frau um, die etwas verlegen lächelte.
“Und zu jedem Jahreswechsel bringen wir mit einer kleinen Spende ein bißchen Licht ins Dunkel der armen Menschen dieses Dorfes.” sagte die Wirtin im bescheidensten Ton.
Beide sahen mich an, als würden sie ein Lob von mir erwarten.
Ich aber sagte: “Da seid ihr ja sicher die reichsten Bewohner dieses Ortes, mit diesem großen Haus”
Der Wirt erklärte: “Das ist eigentlich ein Haus, das unserem König gehört. Ich vermiete es aber, da es sowieso die meiste Zeit leer steht. Wäre doch schade um den Raum, nicht wahr?!”
“Sicherlich” sagte ich unbeeindruckt.
In dem Moment kam eines der Kinder zu seinem Vater gelaufen und sagte, daß es keine Wolle mehr habe. Der Vater ging zu einem Schrank und entnahm daraus ein Wollknäuel.
“Gib den Kindern doch die billige Wolle! Das sind doch nur Kinder, die brauchen doch nicht die teure Wolle.” sagte seine Frau mißbilligend.
Der Wirt seufzte und legte die Wolle wieder zurück.
“Du kannst morgen weiter machen! Jetzt gehen wir schlafen.” sagte er zu seinem Sohn.
Mir war es recht, daß so früh schlafen gegangen werden sollte, denn ich hatte einen anstrengenden Ritt hinter mir und sicher auch noch vor mir.
Die beiden Betrunkenen fielen sofort in zwei der Betten, die Wirtin in ein anderes.
Der Wirt führte mich zu einem Bett und deutete darauf:
“Das beste Bett für unseren Gast!”
Ich verließ den Raum um nach meinem Pferd zu sehen, mich zu waschen und meine Zähne zu putzen.
Als ich wieder in die Gaststube zurückkam, war sie mit Schnarchen gefüllt.
Die Kinder schliefen auf dem Fußboden, obwohl sie wahrscheinlich normalerweise in dem Bett schliefen, in dem ich jetzt schlafen sollte, da es nicht nur das unordentlichste von allen war, sondern auch, da das ehemals weiße Leintuch eine verdächtige Färbung besaß, die mich dazu bewegte, nach meinem Pferd zu sehen und ihm die Nacht über Gesellschaft zu leisten.
Am nächsten Tag wurde ich vom Dorfhahn geweckt, der ungefähr fünf Zentimeter vor meinem Ohr zu schreien begann.
Ich betrat das Gasthaus, nachdem ich mir mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen gewaschen hatte.
Die Familie war schon am Frühstücken und auch für mich war eine Scheibe Brot mit mikroskopisch feinem Butteraufstrich vorbereitet.
Ich ließ mir das Brot schmecken und als ich sah, daß die beiden Kinder mit ihrem Frühstück fertig waren, bat ich sie, für mein Pferd Wasser und Futter zu besorgen. Widerwillig und um einige Geldstücke reicher machten sie sich auf den Weg.
Nachdem ich mein Frühstückswasser getrunken hatte, verließ ich wieder den Raum und beobachtete die beiden Kinder.
Ich sah, wie der kleinere der beiden Söhne seinen Schal wieder auftrennte, als sein Bruder für mein Pferd Wasser schöpfte. Dann lief er zu seinem Vater, der gerade durch die Haustüre gekommen war und schrie, einem Heulkrampf nahe: “Mein Bruder hat mir den Schal aufgetrennt! Jetzt muß ich alles wieder von vorne machen!”
Der Vater wurde rot im Gesicht und rief Größeren zu sich. Ich wendete mich ab um nach meinem Pferd zu sehen, da ich nicht Zeuge von internen Familienangelegenheiten sein wollte. Kurz darauf hörte ich zwei Knaller und einen markerschütternden Schrei, daß sogar mein Pferd vor Schreck fast in die Höhe gegangen wäre, wenn ich es nicht beruhigt hätte. Ich drehte mich um und sah den älteren Sohn heulend zum Waldrand laufen.
Ich überlegte, ob ich den Irrtum aufklären sollte, beschloß aber dann, nichts zu unternehmen und das gastliche Haus sobald als möglich zu verlassen.
Ich ging zum Wirt, der noch immer schimpfend vor sich hin murmelte.
“Danke für deine Gastfreundschaft.” sagte ich. “Ich muß leider wieder weiter und möchte deswegen jetzt meine Schulden begleichen.”
Sofort hellte sich seine Miene auf und er sagte: “Ich bin untröstlich, daß du uns schon verlassen willst! Aber zumindest werden wir deiner immer gedenken!”
‘Ja’, dachte ich, ‘solange ihr mein Geld ausgebt’
Und dann nannte der Wirt genau die gleiche Summe, die er mir am Abend genannt hatte.
Zuerst war ich kurz sprachlos, dann meinte ich: “Mhm… Das war einmal Brot und ein Glas Wasser um diesen Betrag?”
“Was heißt Brot und Wasser? Das heißt bei uns Mahlzeit! Und außerdem hast du ja auch ein Bett gehabt!”
“Ich habe bei meinem Pferd übernachtet!”
“Ja, warum auch immer. Aber ich konnte das Bett ja nicht mehr weiter vermieten!”
Ich wußte, daß ich gegen diese Logik keine Chance hatte, zahlte, stieg auf mein Pferd und ritt davon.
Nur der Hund folgte meinem Pferd ein paar Meter, von allen anderen wurde ich ignoriert.
Ungefähr um die Mittagszeit mehrten sich die Dörfer und Bauernhäuser, an denen ich vorbei ritt, und ein einsamer Wanderer bestätigte mir, daß ich bald die Hauptstadt erreichen würde. Wirklich sah ich am späten Nachmittag die Stadtmauern.
Je näher ich kam, um so mehr konnte ich die Größe der Stadtmauern erkennen. Enorme Türme schützten vor bekannten und unbekannten Gefahren und überall standen Wachen, die nach diesen Gefahren Ausschau hielten.
Vor den Mauern weideten Unmengen von Schafen, die teilweise mit Bändern geschmückt waren.
Gerade vor mir war eine ziemlich große Herde, die von einem alten Schäfer und drei ebenso alten Schäferhunden geleitet wurde.
Ich ritt näher, um mir die geschmückten Schafe besser ansehen zu können.
Da gab es Schafe, die fast eine Krone von Bändern auf ihren Köpfen trugen, teilweise sogar mit goldenen Kugeln verziert.
Der alte Schäfer hatte mein Näherkommen beobachtet und kam mir entgegen.
“Du siehst aus, als hättest du noch nie ein Schaf gesehen!” rief er mir zu.
“Sicherlich habe ich schon Schafe gesehen, aber sicher keine so wunderschön geschmückten!”
“Du bist wohl fremd hier, nicht wahr?” fragte er in fast mitleidigem Ton. “Ich habe gehört, daß es in fernen Ländern Leute gibt, für die das Schaf nicht ein so königliches Tier ist, wie für uns.”
Ich antwortete: “Ja, das muß ich leider zugeben. Darf ich dich fragen, was der Schmuck der Tiere bedeutet?”
“Diese Tiere liefern die beste Wolle, die verwendet wird, um Schals für unseren König zu stricken. Und je besser die Wolle, um so schöner wird das Schaf geschmückt. Nichts ist uns zu teuer für unsere Schafe und es ist eine Ehre, für sie zu sorgen.”
Er überlegte kurz.
“Du kennst dich wirklich nicht gut mit den Sitten und Gebräuchen unseres Landes aus. Erlaube mir, dir einen Führer vorzuschlagen.”
“Gerne, Aber er muß sich auch wirklich gut mit den Verhältnissen in der Hauptstadt auskennen.”
“Ja, das tut er. Er will nämlich Diener unseres Königs werden und muß aus diesem Grund viel über die Eigenheiten der Menschen wissen.”
“Er will Diener des Königs werden?” fragte ich. “Das ist aber interessant. Ich dachte…”
“Da kommt er ja schon!” rief der Hirte und winkte einem Reiter zu.
Schnell kam mein zukünftiger Führer näher. Um den Hals trug er einen weißen Schal, der, was ich sehen konnte, nachdem er abgestiegen war, mit einem extrem komplizierten Muster gestrickt war.
“Hallo Vater. Ich bringe dir deine Jause.”
Mhmm… Vater….
Einige Schafe blökten und kamen zum Sohn gelaufen, der sie dann mit beiden Händen streichelte und kraulte.
Der Hirte stellte mir seinen Sohn vor.
“Das ist mein Sohn Jakob, der einmal Diener unseres Königs werden wird. Jakob, das ist ein Fremder, der unsere Hauptstadt kennen lernen will. Ich habe ihm angeboten, daß du ihn herumführst.”
“Vater, du weißt doch, daß ich für so etwas keine Zeit habe. Ich muß arbeiten, um meine Ausbildung finanzieren zu können.”
“Ich kann dir doch genug Geld geben.” warf der Vater ein.
“Du hast mir schon zuviel Geld gegeben. Ich will das alleine schaffen.”
“Ich bezahle natürlich für deine Dienste.” meinte ich und nannte eine großzügige Summe, die ich pro Tag zahlen würde.
Erfreut nahm Jakob mein Angebot an.
“Danke, Fremder. Hast du schon eine Unterkunft?”
Ich verneinte.
“Darf ich dir anbieten, bei uns zu wohnen?” sagte der Hirte. “Ich besitze zwar nur ein bescheidenes Haus, aber die Stube ist sauber und das Essen meiner Gemahlin sehr gut.”
“Ich möchte euch keine Umstände machen.” meinte ich.
“Du machst uns keine Umstände. Und vor allem kannst du bei uns sicher sein, daß du nicht betrogen wirst, wie von einigen der Wirte in diesem Land.”
Ich willigte ein und bald waren wir gemeinsam auf dem Weg in die Stadt.
Jakob ritt mit gesenktem Kopf ein wenig hinter mir, als würde er mein Diener sein.
Ich winkte ihn näher.
“Du willst Diener des Königs werden?” fragte ich.
“Ja, schon als ich meinen ersten Schal gestrickt hatte, wußte ich, daß ich etwas für unseren König tun wollte. Mehr als nur einfach immer Schals zu stricken. Und da hatte ich die Möglichkeit, Hirte wie mein Vater zu werden, oder Diener. Da ich immer schon meinem Vater geholfen hatte, wollte ich mehr tun und begann eine Ausbildung als Diener. Und bis heute habe ich es nicht bereut.”
“Ich sehe, daß dein Schal ziemlich kompliziert gestrickt ist. Muß man das als Diener des Königs so tun?”
“Viele Diener des Königs werden dir sagen, daß man muß. Ich habe dieses Muster aber gewählt, weil ich meinem König einen schönen Schal stricken will!”
Als wir durch das Stadttor ritten, verbeugten sich die Wachposten vor meinem Begleiter.
“Ein bißchen Glanz unseres Königs fällt auch auf seine Diener.” meinte Jakob.
Bald hatten wir das Haus des Hirten erreicht. Doch wo ich eine arme Hütte erwartet hatte, stand ein stattliches Gebäude. Als wir die Pferde in den Hof geführt hatten, fragte ich verwundert:
“Wie kann sich dein Vater als Hirte dieses Haus leisten?”
“Er ist doch Schafhirte— Ach so, das kannst du ja nicht wissen: Da bei uns das Schaf ein königliches Tier ist, sind die Beschützer dieser Tiere angesehene Menschen in unserem Land und werden auch entsprechend entlohnt. Außerdem darf es nur wenige Schafhirten geben, und diese sind die einzigen, die Wolle an die Händler verkaufen können.”
Nachdem ich mein Tier versorgt hatte, verließen wir das Haus wieder, um die Stadt zu besichtigen. Jakob führte mich auf den Hauptplatz der Stadt, der von mehreren imposanten Gebäuden eingerahmt wurde.
Wir standen vor einem großen Gebäude mit enormen Türen. Vor den Fenstern hingen großflächige, gestrickte Schals, die wie Fahnen im Wind wehten.
Jakob wollte gerade erklären, um welches Gebäude es sich hier handelte, als ihm ein junger Mann von hinten auf die Schulter tippte.
“Hallo Jakob!”
“Ah. Ischa, du bist’s!”
“Kann ich kurz mit dir reden? Es ist wichtig!”
“Aber ich führe gerade…”
“Sehr wichtig!” unterbrach ihn Ischa.
“Na gut. Kannst du einstweilen voraus gehen?” fragte mich Jakob.
Ich stimmte zu und ließ die beiden alleine.
Ich betrat das vorher beschriebene Gebäude.
Auf dem Hauptplatz war ich schon von der Menschenmenge überwältigt gewesen, aber hier drinnen waren fast noch mehr. Überall brüllten Leute durcheinander, boten Händler ihre Waren an, meistens Schals in verschiedenen Farben und Größen, aber auch Wollknäuel, Figuren von Schafen und sehr oft auch Figuren von einem alten Mann mit Hirtenstab, außerdem noch jede Menge Spielzeug, das hier irgendwie nicht ganz hinpaßte.
Während ich etwas ratlos in der Halle herumstand, kam ein Mann auf mich zu, legte seine Arme väterlich auf meine Schultern und schrie, um den Lärm zu übertönen:
“Willkommen, Fremder. Hast du schon etwas für deine Lieben gekauft?”
“Was???”
“Es ist üblich, daß man für seine Lieben etwas mitnimmt, wenn man das Haus des Königs besucht.”
Sein Blick wanderte von meinem Kopf bis zu meinem Hals und er meinte:
“Und außerdem: Wo ist dein Schal?”
Er versuchte, sich bei mir einzuhängen und mich zu seinem Stand zu ziehen.
“Ja, ja, ich weiß, es ist so schwer einen Schal zu stricken – Um ehrlich zu sein, ich kann es auch nicht. Aber die Tochter meiner Schwester macht diese wunderbaren Schals, entweder gemustert oder zwei glatt, zwei verkehrt. Wo auch immer du dazugehörst. Und ich verkaufe dir einen dieser wunderbaren Schals um einen Preis, da wird sicher auch unser König jubilieren!”
Ich wollte mich sanft entfernen, aber er hielt mich fest und fuhr fort:
“Ein so junger Mann wie du hat ja sicher etwas anderes zu tun, als Schals zu stricken, nicht wahr!?!”
Er zwickte mich laut lachend in die Wange, wodurch sich seine Umklammerung lockerte und ich einen Schritt rückwärts machen konnte.
“Vielen Dank, vielleicht später” meinte ich und lief so schnell davon, wie es nur ein so junger Mann, wie ich es war, tun konnte.
Ich sah mich nach einem ruhigeren Teil des Gebäudes um.
Quer über die ganze Halle zog sich ein Gitter, das den Markt – Raum, in dem ich stand, von einem größeren trennte, der mit vielen hunderten Sesseln gefüllt war. Ich wollte mir das Ganze näher betrachten und drängte mich durch die Menschenmenge zur einzigen Öffnung des Gitters.
Ich wollte gerade hindurchgehen, als mich eine Frau am Ärmel packte und sagte:
“Hast du schon Eintritt bezahlt?”
“Eintritt? Oh, tut mir leid, ich wußte ja nicht,…..”
In diesem Moment kam Jakob vorbei und sagte nur:
“Er gehört zu mir.”
“Selbstverständlich.” meinte die Frau und drehte sich weg.
“Was war denn das?” fragte ich Jakob und machte eine Kopfbewegung in Richtung Durchgang.
“Nun ja, das ist so eine Geschichte. Ich bin ja nicht wirklich dafür, aber irgendwie muß man ja das ganze Gebäude finanzieren. Freiwillig zahlt hier niemand etwas, außer für die Geschenke, die da im Vorraum verkauft werden.
‘Unser König ist ja so weit weg!’, sagen die Leute, ‘warum soll ich ihm da auch noch etwas von meinem schwer verdienten Geld geben, besonders, wenn ich schon soviel für die Geschenke und die Wolle ausgegeben habe….’
Natürlich muß man bei Versammlungen nichts bezahlen, aber da kommen sowieso viel zu wenige Leute, um einen Unterschied zu machen.”
Wir gingen zum anderen Ende des Raumes, wo über einem festlich geschmückten Tisch ein Stern mit vielen Strahlen hing.
In diesen Strahlen waren mehrere Objekte eingebettet, die sich bei näherer Betrachtung als kleine Schafe herausstellten, die alle zum Zentrum des Sternes zu laufen schienen.
“Wir sind alle Schafe unseres Hirten”, meinte Jakob, als er meinen Blick bemerkte. “Nur folgen manche auch stur wie Schafe den Vorschriften ihrer Hirten” fügte er leise dazu.
Ein älterer Mann kam durch eine Seitentüre in den Raum, sah Jakob und mich und drehte sich sofort wieder um.
“Was war das denn?” fragte ich.
Jakob zuckte mit den Schultern und meinte:
“Ich weiß nicht. Sonst grüßt mich Servatius Anim immer sehr freundlich…”
Etwas verstört führte mich Jakob aus dem Gebäude heraus.
Wir standen wieder am Hauptplatz. Ein paar mal versuchte ich, Jakob in ein Gespräch zu verwickeln, doch er gab mir nur kurze Antworten.
Es kamen uns einige Jugendliche in Jakobs Alter entgegen, die ebenso wie er einen weißen Schal um den Hals hatten. Als sie uns sahen, tuschelten sie leise miteinander.
Jakob grüßte sie, doch sein Gruß wurde nur sehr schwach erwidert. Das beunruhigte Jakob so sehr, daß er ihnen nachgehen wollte, sich aber doch zurückhielt und weiter verstört neben mir her ging.
Wir kamen zu einem Gebäude, das, wie mir Jakob sehr kurz erklärte, die Ausbildungsstätte der Diener war.
Jakob bat wieder, mich ein wenig alleine lassen zu dürfen, während er versuchen wollte, dem seltsamen Verhalten seiner Kollegen auf den Grund zu gehen.
Ich setzte mich also auf eine Bank, die vor dem Gebäude um einen uralten Baum herumlief. Kurz nachdem Jakob in das Haus gegangen war, kamen zwei zukünftige Diener auf mich zu und setzten sich auf der mir abgewandten Seite des Baumes auf die Bank.
Ich hörte den einen sagen:
“Hast du schon gehört? Der Jakob, der Sohn des Hirten, ist mit einer verkehrten zusammen!”
“Nein!” stieß der andere überrascht hervor. “Das gibt’s doch gar nicht! Der Jakob, der immer so ein guter Schüler unseres Königs war!”
“Genau der. Kannst du dir so etwas vorstellen? Ich habe gehört, daß sie sogar schon zusammenleben und schlimmeres!”
“Nein! Und so ein Sünder will Diener unseres Königs werden!”
Nach einem entsetzten Schweigen der beiden erzählten sie sich noch gegenseitig Dinge über Jakob, die ihrer Meinung nach immer schon gezeigt hätten, was für ein schlechter Mensch er sei.
Nach ungefähr einer halben Stunde kam Jakob wieder zurück.
Als die beiden Kollegen ihn sahen, standen sie auf.
Der eine kam auf Jakob zu und grüßte ihn herzlich:
“Jakob, schön dich wieder zu sehen! Was treibst du den ganzen Tag? Wie geht es dir?”
“Hallo, Marin! Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Niemand grüßt mich mehr, alle behandeln mich, als hätte ich etwas verbrochen, und wenn ich sie dann frage, wissen sie von nichts.”
“Aber Jakob! Ich glaube, daß du dir das nur einbildest! Was sollte den sonst sein?”
Jakob zuckte verzweifelt mit den Schultern.
“Ich weiß auch nicht. Das ist ja mein Problem.”
“Na ja. Wie geht’s denn deiner Freundin eigentlich?”
“Mhmmm?”
“Deiner Freundin? Ich habe gehört, daß du ein klein wenig verliebt bist!”
Jakobs bleiche Wangen wurden etwas rot und er meinte:
“Danke, es geht ihr gut. Vielleicht rede ich mir das wirklich nur ein. Danke dir, du bist immer ein guter Freund gewesen.”
Der andere murmelte: “Kein Problem… Grüß dich!” und ging mit seinem Begleiter in das Gebäude.
Wir verließen den Platz vor der Schule und wanderten durch die kleinen, verwinkelten Straßen der Stadt.
“Deine Freundin strickt den Schal anders als du?” fragte ich ohne Einleitung.
Für einen kurzen Moment nahm Jakobs Gesicht einen verärgerten Ausdruck an, doch er hatte sich wieder gefaßt und sagte:
“Ja, das tut sie. Du hast doch kein Problem damit, oder?”
“Ich nicht. Aber einige von deinen Freunden scheinen ein Problem damit zu haben.”
“Meine Freunde doch nicht. Ein wahrer Diener unseres Königs hat keine Probleme mit solchen — Formsachen. Du hast doch gesehen und gehört, wie sich Marin vorher nach meiner Freundin erkundigt hat.”
“Ja, das habe ich gehört. ” meinte ich. “Aber ich habe noch etwas anderes gehört.”
Und ich erzählte ihm, was ich zuvor mitbekommen hatte.
Jakob hatte mir schweigend zugehört. Und obwohl ich ihm nur das nötigste mitgeteilt hatte, sah ich, wie seine Augen feucht wurden.
“Das hätte ich nicht geglaubt” flüsterte er.
Wir waren auf einem Platz stehengeblieben.
Ich nahm Jakob an die Hand und sagte:
“Ich glaube, es ist besser, wenn wir nach Hause gehen!”
Jakob ließ sich mitziehen und so führte ich ihn zum Haus seines Vaters zurück.
Es war schon ziemlich dunkel geworden, und so war es nur meinem Orientierungssinn zu verdanken, daß wir das Haus überhaupt erreichten, denn ich mußte Jakob den ganzen Weg ziehen.
Ich lieferte Jakob bei seinem Vater ab und ging in den Stall, um nach meinem Pferd zu sehen. Ich sah, daß es gut versorgt war und beschloß, einen Abendspaziergang zu machen, um die Familie nicht zu stören.
Die Straßen waren dürftig mit Laternen beleuchtet und es waren nur mehr wenige Leute unterwegs.
Aus den Häusern drang das Klappern von Geschirr, Gesprächsfetzten und manchmal auch fröhliches Singen.
Vor einem alten Haus, das aussah, als ob es von einem Orkan besucht worden wäre, saß ein alter Mann.
Er trug ein altes Hemd, das wahrscheinlich vom gleichen Orkan wie das Haus zerrissen wurde, denn es hing in schmutzig – grauen Fetzten an seinem Körper.
Mit einem Lächeln, das seine Zähne oder besser gesagt das Fehlen seiner Zähne zeigte, rief er mir zu:
“Hallo, mein Sohn! Setz dich zu mir!”
Ich zögerte.
“Fürchtest du dich vor einem alten Mann?”
Da Ängstlichkeit und Schüchternheit nie Teil meines Wesens waren, setzte ich mich neben den Alten.
“Ah! Ein fremdes Gesicht. Endlich wieder ein fremdes Gesicht!” rief der Alte und klopfte mir auf die Schulter. “Immer die gleichen Leute, tagaus, tagein!”
“Es werden doch genug Fremde hierher kommen?” meinte ich. “Händler, Verwandte aus anderen Ländern und so weiter”
“Sehr, sehr selten. Nicht wir werden besucht – Nein, viele aus meinem Volk verlassen unser Land, weil sie glauben, es anderswo einfacher zu haben.”
“Und – Ist es einfacher?”
“Nun ja – Man wird schneller reich, berühmt, … Aber das wesentliche erreichen sie selten – ihr Glück”
Der alte Mann drehte sich von mir weg und sah in die Ferne, als ob er nach jemanden Ausschau halten würde.
“Kommt doch zurück!” flüsterte er flehentlich und ich hatte das Gefühl, daß er jemand ganz speziellen damit meinte.
“Aber….” sagte er, wieder lächelnd. “Reden wir nicht von mir. Reden wir von dir. Wie gefällt dir unser Land?”
“Das Land ist zwar sehr schön, doch ich habe mit einigen Bewohnern schlechte Erfahrungen gemacht.”
“Verdamme nie das ganze Land, nur weil einige der Einwohner schlecht sind.”
“Ja, aber, was ist mit diesem ewigen Streit, wie der Schal zu stricken ist? Das spaltet ja das ganze Volk und macht schwach gegen andere Gefahren!”
“Unser König hat uns nie genaue Anweisungen gegeben, wie der Schal zu stricken ist. Vielleicht hat er das mit Absicht getan, um uns auf die Probe zu stellen – Ich weiß es nicht.
Außerdem sind sie sich nur uneinig, wie der König verehrt werden soll. Daß er verehrt werden soll, ist allen klar. Also – Fast allen….”
Er sah die Straße hinunter, wo ein Mann entlang kam. Hinter ihm waren zwei Kinder, die beide einen vollbepackten Wagen hinter sich herzogen.
“Ah! Der junge Mann von heute Nachmittag!” schrie er schon vom weiten, als er mich gesehen hatte. Auch ich hatte – mit Schrecken – den Händler vom Hauptplatz gleich wieder erkannt.
Freudestrahlend kam er auf mich zu und meinte:
“Du hast ja noch immer keinen Schal. Aber zumindest hast du Glück. Mir sind noch ein, zwei übrig geblieben.”
Er ging zum Karren und zog einen – zugegeben – wunderschönen Schal hervor.
“Ein sehr schönes Stück – und noch dazu sehr billig! Außerdem spende ich fünf Prozent des Erlöses an bedürftige Familien in unserer schönen Stadt!”
“Kein Interesse! Wenn ich einen Schal haben will, stricke ich ihn selbst!”
“Haha! Du glaubst, daß du einen Schal stricken wirst?! Dir ist doch alles andere wichtiger – Warum soll denn irgendwer einen Schal stricken, wenn er ihn kaufen kann?”
“Worin besteht der Sinn, einen Schal zu tragen, wenn man ihn nicht selbst gestrickt hat?” fuhr der Alte dazwischen. “Du betrügst dich selbst, deine Landsleute und deinen König!”
Der Händler war kurz sprachlos, aber bald kam sein Verkäufer – Lächeln zurück und er klopfte mir mit der Hand auf die Schulter, daß es knackte und sagte zu mir:
“Laß dich nicht von diesem königlichen Geschwätz beeinflussen. Diese Leute wollen dir dein Leben wegnehmen und dein…”
“Haha – sein Leben! Woraus besteht denn dein Leben? Verkaufen und betrügen!”
Der Händler drehte sich weg, um dem Alten nicht in die Augen sehen zu müssen und meinte:
“Ich habe jetzt keine Zeit, ich muß meine Ware nach Hause bringen. Aber wir können ja irgendwann weitersprechen.”
Damit verließ er uns eiligen Schrittes. Die Kinder folgten ihm nach.
“Es gibt überall schwarze – Schafe” meinte der alte Mann, nachdem der Händler um eine Ecke verschwunden war.
“Und bei Leuten wie ihm ist es noch offensichtlich!”
Ich stand auf.
“Vielen Dank für das Gespräch, aber ich muß leider weiter.”
“Bleib da!”
“Nein, ich muß weiter!”
“Ich meine: bleib in unserem Land.”
“Ich reise, um anderen Leuten erzählen zu können, um anderen Menschen etwas beizubringen. Ich muß weiter. Leb wohl!”
Der alte Mann reichte mir die Hand und ich ging den Weg zurück, den ich gekommen war.
Kurze Zeit später kam ich wieder zurück zum Haus des Hirten.
Nirgendwo brannte mehr Licht, doch als ich zu dem Zimmer ging, das mir zugeteilt worden war, hörte ich aus dem Nebenzimmer vereinzelte Seufzer.
Die Türe war nur angelehnt und so stieß ich sie ein bißchen auf und blickte hinein.
Drinnen saß Jakob und hielt seinen Schal in der Hand. Er schien die Muster zu zählen und bewegte dabei seine Lippen, ohne aber einen Laut von sich zu geben.
Leise schloß ich die Türe wieder und ging auf mein Zimmer.
Am nächsten Morgen stand ich auf und ging in den Stall, um nach meinem Pferd zu sehen. Irgend jemand hatte ihm schon frisches Wasser und Futter gegeben, doch als ich ins Haus zurückging, konnte ich niemanden mehr finden.
Also beschloss ich, mit meinem Pferd etwas durch die Stadt zu reiten.
Alles war seltsam ruhig, ich sah nur wenige Leute durch die Straßen spazieren.
Auch am Hauptplatz, der gestern doch so bevölkert war, konnte ich nur drei Personen zählen. Als ich am Haus des Königs vorbeikam, war es mir, als hätte ich die Stimme Jakobs gehört.
Ich stieg ab, band mein Pferd an einen Pfosten und ging in das Gebäude. Der Vorraum war nicht mehr mit Waren gefüllt und überall war eine beinahe gespenstische Ruhe. Da hörte ich aus dem Hauptraum wieder Jakobs Stimme.
Er hatte irgendetwas von einem Nächsten gesagt. Ich ging in den Hauptraum. Überall saßen Leute auf den Sesseln und ganz vorne, unter dem Bild des Sterns stand Jakob mit leuchtenden Augen und hielt seinen Schal in die Luft.
“Wir sind alle Untertanen unseres Königs. Wir verehren ihn, wir beten ihn an. Und wir lassen uns unseren Weg von ihm zeigen. Und wir stricken Schals für ihm. Ja wir! Wir und nicht die anderen. Die anderen stricken auch Schals, aber sie mühen sich nicht ab! Nein! Sie machen keine Muster in ihre Schals, stricken nur zwei glatt, zwei verkehrt!”
Ich war in der Zwischenzeit zu einem leeren Sessel gekommen und setzte mich hin. Als ich dabei einen zweiten Sessel geräuschvoll anstieß, wurde ich von allen Seiten mit strafenden Blicken durchbohrt.
“Zwei verkehrt! Jeder kann sofort sehen, daß das verkehrt ist! Oder? Ist es wirklich verkehrt? Wissen wir, daß es falsch ist? Nein – wir wissen gar nichts! Wir leben nur so dahin, tagein, tagaus, stricken unsere Schals, möglichst kompliziert, schimpfen darüber, daß die Wolle so teuer ist und daß es so aufwendig ist, ein Muster zu stricken, alles nur für diesen König, der es so verlangt…..
Warum? Haben wir die Botschaft unseres Königs nicht verstanden? Haben wir nicht verstanden, daß er mit Liebe verehrt werden möchte und nicht mit Haß gefürchtet? Nein, wir haben gar nichts verstanden.”
Jakob war in sich zusammengesunken und ließ seinen Schal fallen, denn er hatte keine Reaktion bei den Menschen im Saal hervorgerufen. Wie in Trance starrten sie ihn an und sprachen das von Jakob gemurmelte “So soll es sein” motorisch nach.
Erst als er durch eine Seitentüre verschwunden war, stieß mich eine ältere Frau an und meinte: “Wie kann er das machen, seinen königlichen Schal einfach so auf den Boden zu werfen.”
Ich zuckte nur höflich lächelnd mit den Schultern und verließ den Saal wieder.
Draußen stand Jakob bei meinem Pferd und streichelte es am Hals.
“Nimm mich mit.” sagte er, als er mich bemerkte. “Nimm mich und meine Freundin mit in deine Heimat. Hier werden wir nie glücklich sein können.”
Ich band mein Pferd los und sagte:
“Willst du wirklich schon aufgeben? Willst du dich von Trägheit besiegen lassen? Dann komm mit. Aber ich sage dir eines: Ihr seid in eurem Land so sehr beschenkt, daß ihr einen König habt, der für euch sorgt und der es wert ist, angebetet zu werden. Das wirst du in meiner Heimat nicht finden. Willst du wirklich darauf verzichten? Willst du ihn wirklich im Stich lassen?”
Ich stieg auf.
“Leb wohl. Ich weiß, daß du das richtige tun wirst. Vielleicht komme ich ja dich und deine Frau einmal besuchen!”
Damit ritt ich davon.